Montag, 29. September 2008

Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 10)

Nach dem zuvor Geschriebenen stellt sich natürlich die Frage, ob und wie die Inzucht sinnvoll in eine Zuchtstrategie einzubauen ist. Stellt sie etwa die zu verteufelnde Büchse der Pandora dar, die von manchen Autoren immer wieder beschworen wird? Führt sie wirklich zu nichts Gutem?

Oder aber ist sie das Mittel, mit dem man sich als Züchter unsterblichlich macht, da man mit ihr extrem qualitätsreiche Brieftauben hervorbringt, wie einst die Gebrüder Janssen.

Nun, Inzucht ist keines von beidem. Inzucht ist für sich allein betrachtet gar nicht zu bewerten. Denn es ist zusätzlich sehr wichtig zu betrachten, in welchem Grade Inzucht betrieben wird, welchem Ausleseprozess die Nachzucht unterworfen wird, und was wir mit der Inzucht erreichen wollen.


Inzucht, ein Weg in die Degeneration?

Durch fortschreitende Inzucht steigt der Grad der homozygoten Gene stetig an. Die Folge kann eine Inzuchtdepression sein, die die Leistungsfähigkeit der Nachkommen stark beeinträchtigt. Im Brieftaubensport gab und gibt es immer wieder Beispiele von berühmten Züchtern, die in diese "Falle" der Inzucht getappt sind: Die Gebrüder Janssen gehören ebenso in diese Gruppe, wie Karel Meulemans, Toni v. Ravenstein mit seiner Cäsar-Linie, Günter Prange mit seinen reinen roten Delbars, und einige weitere sehr bekannte Züchter.

Wenn schon solche Kapazitäten im Taubensport an der Inzucht "gescheitert" sind, sollte man dann nicht besser die Finger ganz von der Inzucht lassen? Ja, es ist möglich komplett auf Inzucht zu verzichten. Man benötigt dazu allerdings einen realtiv großen Bestand an Tauben, oder man führt ständig eine ordentliche Anzahl an fremden Tauben neu in den Bestand ein. Denn führt man keine Tiere ein, sind bereits nach sehr wenigen Generation die meisten Leistungsträger mit einander verwandt, man käme also um Inzucht nicht mehr herum, oder man akzeptiert zu große Kompromisse bei der Selektion auf die Zuchtziele (siehe auch Teil 7).

Führt man ständig neue Tiere ein, bergen diese das Risiko mit ihnen auch neue Krankheits-Keime einzuführen. Zudem wird meiner Meinung nach hierbei oft unterschätzt, dass die eingeführten Tiere aufgrund der für sie "ungewohnten" Keimflora
mehrere Monate benötigen, bis sie den selben guten Gesundheitsstatus erreichen, wie die restlichen Bestandstiere. Darüber hinaus mögen die neu Eingeführten zwar gute Tauben sein, aber gegebenenfalls passen sie einfach gar nicht zur bisherigen eigenen Sorte. Ausgiebiges Testen in der Zucht ist hierbei also ein Muss.

Als Konsequenz aus diesen Unsicherheiten und Risiken, wird praktisch auf jedem Schlag ein wenig Inzucht betrieben. Und selbst Hans Zurhöfer, der die Inzucht so vehement verteufelte, verpaarte Verwandte 5. Grades und sah hierin keine Inzucht mehr. Doch letzteres ist natürlich auch Inzucht, nur in geringerem Maße (Inzuchtkoeffizient von 3,1% bei einem gemeinsamen Verwandten).

Bei den oben genannten Züchterbeispielen habe ich das Wort "gescheitert" bewußt in Gänsefüßchen gesetzt. Denn bei Meulemans ingezüchtetem Stamkoppel Nachwuchs, bei den Janssen-Tauben der 80er und 90er und auch bei den reinen Prange Delbars der Gegenwart (wie z.B. bei der Mutter des 802, der 665) sollte man nicht von Scheitern sprechen! Diese Tiere waren, wenn man sie direkt auf der Reise einsetzte vielleicht nicht mehr zu Top-Leistungen fähig. Doch als Vererber in Kreuzungspaarungen haben sie Weltruhm erlangt. Durch ihren hohen Homozygotiegrad bei vorwiegend "guten" Genen sind sie in der Weitergabe "guter" Gene den Kreuzungstauben meist deutlich überlegen. Dies ist ein Fakt, über das energische Gegner der Inzucht gerne hinweg sehen.

Das heißt mit einem hohen Inzuchtkoeffizienten erkaufe ich mir gesicherte Vererbung von Eigenschaften und Genen auf die Nachkommen mit dem Preis der Inzuchtdepression. Es ist also in gewisser Weise ein Handel mit dem Teufel, bei dem man sehr auf der Hut sein muß. Die Inzuchtdepression geht aber in einer anschließenden Kreuzungspaarung wieder verloren.



Inzucht zur "Reinigung" des Erbgutes

In seinem Buch "Die Kunst des Züchtens" schreibt Prof. Alfons Anker, dass eine stärker sichtbare Inzuchtdepression ein Beleg für einen höheren Homozygotiegrad sei. Diese These wurde in der Genetik mittlerweile klar widerlegt. Welche Gene durch Inzucht homozygot werden, und ob diese dadurch Negatives oder Positives bewirken, hängt vom Ausgangsmaterial mit dem Inzucht betrieben wird und vom Zufall ab.

Befinden sich unter den Zuchttieren Tiere, die rezessive "Schad"-Gene im Genom haben, so könnten durch die Inzucht natürlich auch diese Gene konzentriert werden, und in homozygoter Form ihre Schadwirkung entfalten. Dies ist natürlich in keiner Weise ein Qualitätsbeleg (im Sinne einer hohen Homozygotie) für das Nachzuchttier. Solche Tiere müssen statt dessen selektiert werden. Und zusätzlich sind die Elterntiere und ihre Nachzucht von der Zucht auszuschließen, da die Inzucht hier ja bewiesen hat, dass sowohl Vater als auch Mutter Träger des "Schad"-Gens sind, welches wir ja nicht weiter im Bestand verbreiten wollen.

Man kann also diesen Effekt des Auftretens von verborgenen schlechten Eigenschaften durch starke Inzucht auch bewußt nutzen, um die Qualität der verborgenen Eigenschaften einer Linie zu testen. Und man kann dadurch quasi seinen Bestand von solchen Genen "reinigen", indem man die gesamte Linie entfernt. In der Hundezucht ist so etwas bei Erbkrankheiten durchaus üblich.

Wenn ich also starke Inzucht auf ein Top-Tier betreibe, und die Nachzucht weisst überdurchschnittlich viele Mängel auf, so ist nicht nur die Inzuchtnachzucht zu verwerfen, sondern man sollte auch darauf verzichten seine Zuchtbestrebungen für die Zukunft auf dieses "Top-Tier" zu gründen!

Möchte ich eine Abschätzung des Homozygotiegrades haben, sollte ich also nicht auf Inzuchtdepression aussein, sondern lieber den Inzuchtkoeffizienten ausrechnen. Und ist dieser hoch, und die Qualität der Zuchttaube und ihrer Nachzucht ebenfalls sehr hoch in Bezug auf meine Zuchtsziele, dann habe ich ein sehr wertvolles Tier für die Zucht, da es seine guten Gene mit einer hohen Wahrscheinlichkeit und damit an viele Jungtiere weitergibt.



Inzucht zur Festigung von neuen Eigenschaften
Wenn etwas völlig neues im Genom entsteht, da dort Fehler beim Kopieren der Information während der Meiose geschehen, spricht man von MUTATIONEN. Mutationen sind sehr selten. Und zwar so selten, dass sie den meisten Taubenzüchtern während ihre gesamten Züchter Karriere kaum begegnen. Daher spielen sie in der Brieftaubenzucht praktisch keine Rolle. In der Zucht der verschiedenen Taubenrassen haben Mutationen jedoch die wesentliche Rolle gespielt. Seien es die verschiedenen Farbschläge, Zeichnungen, dicke Nasenwarzen, belatschte Füsse, die Halskrause, und vieles mehr. All diese Merkmale traten bei der Wildform unserer Tauben, der Felsentaube nicht auf.

Als jedoch zum Beispiel das rezessive Merkmal der Halskrause zum ersten Mal auftauchte, waren die Züchter quasi gezwungen diese Mutation durch Inzucht zu festigen und dadurch eine signifikante Anzahl von Tauben mit Halskrause zu züchten. Schließlich mußten ja verwandte Nachfahren des ersten Mutanten, die beide das neue rezessive Gen trugen, miteinander verpaart werden, damit die Nachzucht eine sichtbare Halskrause zeigte. Jedes spätere Auftreten der Halskrause ist quasi der Beweis für die Verwandtschaft mit dem ersten Mutanten sowohl über den Vater, als auch über die Mutter.

Das Prinzip der Inzucht ist in der Natur ein wesentliches Element, dass zur Entstehung neuer Arten beiträgt. Inzucht hat ebenso zur Entstehung der Felsentaube beigetragen, wie sie zur Entstehung des Menschen beigetragen hat. Somit ist Inzucht nicht per se als schädlich oder verwerflich zu verteufeln. In der Zucht erfüllt sie den wichtigen Zweck der Festlegung von Eigenschaften in einer breiteren Population.



Inzucht im Überblick
Gilt es neue Aufgaben zu lösen, ist eine Population mit vielen verschiedenen Alternativen im Genom (möglichst Heterozygote Genome also) deutlich anpassungsfähiger, als eine ingezüchtete Population (hohe Homozygotie) mit wenigen genetischen Varianten.

Im Taubensport wird in Bezug auf manche Anforderung wie zum Beispiel "Schnelles Fliegen" eine immer wieder gleiche Aufgabe gestellt, sofern sich dies auf ähnliche Flugdistanzen bezieht. Somit ist die Inzucht hier ein wertvolles Mittel Eigenschaften wie beispielsweise die "hohe Fluggeschwindigkeit" im Bestand zu festigen.

Bei Inzucht muss beachtet werden, dass sowohl "schlechte", wie auch "gute" Gene angereichert werden können. Daher ist Inzucht alleine kein Hilfsmittel, dass uns weiterbringt. Nur Inzucht kombiniert mit sehr strenger Auswahl der ingezogenen Nachzucht nach unseren Zuchtzielen bringt die gewollte Anreicherung der "guten" Gene.

Dass Inzucht-Tiere generell zur Reise bzw. ausgiebigen Zuchtprüfung nicht taugen, haben die Janssen Brüder -zig mal widerlegt. Schon der "Oude Merckx" mit seinen 18 1.Konkursen war mit einem Inzuchtkoeffizienten von über 12,7% stärker ingezogen, als es Junge einer Vater-Enkel-Paarung wären. Und der "Jonge Merckx" flog mit einem Inzuchtkoeffizienten von über 45% noch 15 1.Konkurse. Das Ausgangsmaterial der Janssens war offensichtlich erstklassig und weitgehend frei von "Schad"-Genen, die durch die starke Inzucht in den Vordergrund hätten treten können. Zudem betrieben die Janssens (zumindest in den Anfangsjahren, wie auch Prof. Anker berichtet) eine sehr strenge Auswahl bei der Nachzucht. Der Ausschuß bei Inzucht-Nachwuchs ist erwartungsgemäß deutlich höher, als bei Kreuzungs-Nachwuchs.

Inzucht-Tiere können allerdings durch Epistasie Effekte an Vitalität und Leistungsfähigkeit verlieren, ohne, dass unbedingt die Anreicherung von "Schad"-Genen die Ursache sein muss. Daher ist bei fortwährender Inzucht ohne Kreuzung auf Dauer ein Leistungseinbruch zu erwarten, selbst wenn eine noch so starke Selektion auf die Zuchtziele hin betrieben wird.

Sehr erfolgversprechend ist aber meines Erachtens der Wechsel von stärkster Inzucht, harter Selektion und anschließender Kreuzung mit einer völlig unverwandten Linie, wie sie z.B. auch Günter Prange seit den 90er betreibt.

Im ersten Schritt verspricht eine starke Inzucht zwischen Leistungstauben (oder Top-Zuchttauben) und ihren besten
(in Bezug auf unsere Zuchtziele) Kindern oder Geschwistern eine hohe Anreicherung von Genen. Durch die anschließende strenge Selektion bleiben die Inzucht-Tiere übrig, die möglichst viele unserer "Wunschgene" enthalten.
Im letzten Schritt, der "Gebrauchskreuzung", wird der schädliche Einfluß des großen Homozygotiegrades auf die Vitalität durch Kreuzung mit einem völlig unverwandten Partner aufgehoben. Auch dieser Partner könnte natürlich einer Inzucht-Linie entspringen, muss er aber nicht. Entscheidend ist vielmehr seine ebenfalls hohe Qualität und seine Passerfähigkeit.

Mit Passerfähigkeit ist hier gemeint, dass durch die Paarung ein möglichst hoher Heterosis Effekt erzielt werden soll. Wenn dies nicht geschieht, würden ja die negativen Einflüsse der Inzuchtdepression nur zum Teil aufgehoben werden, und die Nachzucht kann ihr volles genetisches Potental nicht ausspielen. Die "genetische Distanz" (die genetische Unterschiedlichkeit zu den homozygot vorliegenden Genen des Inzuchttieres) zwischen den Paarungspartnern sollte also möglichst groß sein.

Da Inzuchttiere einen höheren Homozygotiegrad besitzen, der einen gesicherten Übergang eines Teils der "guten" Gene auf die Nachzucht gewährleistet, werden aus sehr guten Inzuchttieren auch beständiger gute Jungtiere gezogen, als aus Kreuzungstieren mit einem geringeren Homozygotiegrad.

Umgekehrt ist aber auch festzustellen, dass aus schlechten Inzuchttieren auch beständiger schlechte Nachzucht gezogen wird
!

Die Inzucht dient also zur Steigerung der Vorhersagbarkeit des Zuchtergebnisses. Für die Steigerung der Qualität ist hingegen die konsequente Selektion zuständig, nicht die Inzucht.

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