Das Erbgut enthält den Bauplan nachdem ein Lebewesen "gebaut" ist. Dies war in den vorhergegangenen Teilen ein von mir immer wieder gebrauchtes Bild. Doch wir haben im letzten Teil gesehen, dass die Umwelt auch ihr Schärflein zum "Aufbau" des jeweiligen Lebewesens beiträgt. Dieser Umwelteinfluß kann soweit gehen, dass er für die Ausprägung bestimmter Merkmale die maßgebende Instanz ist. Dies meint, dass das Erbgut an dieser Stelle gar nichts Konkretes bewirken kann.
Die Vererblichkeit (Heritabilität)
Betrachtet man z.B. die Äste eines Baumes, so wird schnell klar, dass nicht sein Erbgut definiert hat, wo genau welcher Ast wachsen wird, wie dick er ist, und wann er neue Quertriebe bringt. Das Erbgut beschreibt hier lediglich, nach welchen Regeln sich der Baum verhalten soll, wenn er Wind, Sonne und Astabrüchen ausgesetzt ist. Was dann letztendlich dabei heraus kommt, sieht jedesmal anders aus, ist einzigartig, selbst wenn es zwei Bäume mit identischem Erbgut wären.
Zwei andere Beispiele kennen wir auch vom Menschen: Der Fingerabdruck und auch die Iris sind individuell von Mensch zu Mensch verschieden, sogar bei Eineiigen Zwillingen. Und es sei an dieser Stelle noch einmal erwähnt: Es ist nicht gerade unwahrscheinlich dass auch die Iriszeichnungen unserer Tauben nicht ausschließlich durch das Erbgut bestimmt werden, sondern individuelle Produkte der Natur sind, deren Aussehen im Detail die Folge von Umwelteinflüssen und Wachstumsprozessen sind. Sprich: Gerade die Details (die Detailzeichnungen des Taubenauges ,wie "Geschwindigkeitslinien, "Ausdauerlinien", ...) , worauf viele Züchter auch heute noch allzu gerne schauen, um die "Vererbungsstärke" von Brieftauben vorherzusagen, sind wahrscheinlich gar nicht direkt vom Erbgut der Taube abhängig, sondern zu einem guten Teil auf "Umwelteinflüsse" zurückzuführen! Zumindest aber sind die das Augenaussehen bestimmenden Faktoren qualitativ vererbte Merkmale, die auf nur wenige Gene zurückzuführen sind. Einen Schluß von diesen wenigen Genen auf das gesamte Genom einer Taube oder auf die von sehr vielen Genen abhängigen quantitativen Merkmale (wie z.B. Geschwindigkeit) zu ziehen, ist nicht zulässig (siehe auch hier unter dem Stichwort "Kopplung von Genen").
Das Merkmal eines Lebewesens , dass wir durch gerichtete Zuchtwahl verstärken bzw. abschwächen können, und dies auch vor dem Hintegrund, der durch die Umwelt diesem Merkmal hinzugefügten Variationsbreite wird in der Genetik als ein vererbliches Merkmal bezeichnet. Das heißt, das Merkmal muß sich trotz der Umweltvariation bis in den Phänotyp erkennbar durchsetzen können.
Der relative Fortschritt (relativ zur Selektionsgrenze), den man bei der Zuchtwahl von einer zur nächsten Generation erzielt, wird in der Populationsgenetik HERITABILITÄT genannt. Dies läßt sich wohl am besten mit dem deutschen Kunstwort "Vererblichkeit" übersetzen.
Wenn also die Variationsbreite der Umwelt extrem groß ist, kann sie, wie im Falle der Aststruktur eines Baumes, die genetische Bauanleitung dahinter so unkenntlich machen, dass man von einer sehr geringen Heritabilität/Vererblichkeit der Aststruktur von Bäumen sprechen würde, da man hier durch Zuchtwahl auf keine bestimmte Aststruktur hin züchten kann.
In der Tierzucht bzw. Zucht von Brieftauben können wir durch Zuchtwahl also nur in den Merkmalen einen Fortschritt im Genom erreichen, die eine ausreichende Heritabilität besitzen. Als ein sehr wichtiges Merkmal, dass nach verschiedenen Aussagen eine sehr geringe Heritabilität besitzt, ist an dieser Stelle die Vitalität zu nennen (z.B. im Buch "Die Kunst des Züchtens" von Prof. Alfons Anker und im "Das große Buch der Brieftaube" von Prof. van Grembergen). Wenn also die Aussagen dieser wenigen Wissenschaftler, die sich einmal konkret mit Brieftauben befasst haben, zutreffen, dann bedeutet dies: Eine Auslese auf Vitalität ist zwar natürlich dem durchschnittlichen Gesundheitsstatus des Bestandes sehr zuträglich und daher zwingend notwendig, sie verbessert aber nicht das Genom der Tiere hin zu im Durchschnitt "vitaleren" Tauben. Sprich auch aus zwei top-vitalen Tieren können wenig vitale Tiere gezogen werden und auch umgekehrt. Eine Festschreibung der Eigenschaft "Vitalität" im Genom ist schwerlich möglich.
Konzentration auf wenige Merkmale
Wie bereits in früheren Teilen geschrieben, sind die bei Brieftauben so wichtigen Eigenschaften quantitativ vererbte Merkmale, an deren Ausprägung viele Gene beteiligt sind. Wenn man es sich sehr einfach machen wollte, könnte man ja nur von einem Merkmal sprechen, auf das wir züchten wollen: "Die Fähigkeit eine As-Taube oder 1.Konkursflieger zu sein".
Dieses Merkmal ist aber eine Kombination aus vielen quantitativ vererbten Merkmalen und hängt daher von einer sehr sehr großen Anzahl von Genen ab. Und dieser Umstand macht uns dann in der Zuchtwahl besonders zu schaffen. Warum?
Nun, jedes quantitative Merkmal hat eine Variationsbreite (ich verweise hier an die bereits öfter gezeigte Darstellung der Häufigkeitsverteilungs einer bestimmten Merkmalsqualität, wie im Milchleistungsbeispiel bei Kühen in Teil 4 erläutert). Und diese Variationsbreite wird nochmals durch die Umweltvariation deutlich verstärkt und verändert. Wenn wir nun auf dieses Merkmal hin Selektion betreiben, werden wir zwar kontinuierlich Fortschritte in der Verbessung des Genoms durch Anreicherung von "guten" Genen erzielen. Doch der Fortschritt pro Generation wird umso geringer, je größer die Variationsbreite des Merkmales ist und je geringer dessen Heritabilität ist. Auch wird es schwer bei der Beurteilung der Merkmale reproduzierbare und von Umwelteinflüssen rel. unabhängige Kriterien anzulegen, da die Umwelteinflüsse die Reproduzierbarkeit stark einschränken können. Hier sei als Beispiel das Wetter bei den Flügen erwähnt, die die Beurteilung der Eigenschaft "Geschwindigkeit" deutlich erschwert.
Zusätzlich erzeugt die Bewertung nach sehr vielen Merkmalen noch ein systematisches Problem:
Bei der Selektionsbewertung des ersten Merkmales (z.B. Nestliebe) könnten beispielsweise nur 30% der aller Tiere unser Kriterium erfüllen und übrig bleiben, und bei der Bewertung des zweiten Merkmales (z.B. Muskelfülle) nur 10% aller Tiere, und bei der Bewertung eines dritten Merkmales (z.B. Distanzeignung) nur 20% aller Tiere. Und so könnte es gut sein, dass nur noch 0,6% (10% x 20% x 30%) aller zur Verfügung stehenden Nachzuchttiere die Selektionsprüfungen erfüllen! Sprich von 1000 Jungtieren hätten, wenn wir etwas Pech haben, nur 6 Jungtiere alle Kriterien erfüllt!
Als direkte Folge hiervon wäre man gewungen, auf das eine oder andere Merkmal nicht mehr so scharf zu selektieren. Wodurch man aber, wenn dieses Merkmal ohnehin nur eine geringe Heritabiliät besitzt, im Bezug auf dieses Merkmal sehr schnell im Durchschnitt versinkt und keinen weiteren Zuchtfortschritt hierin erzielen wird.
Somit wir auch schnell klar, warum es für den Züchter extrem wichtig ist, dass seine Zuchttiere in möglichst vielen der ihm wichtigen Eigenschaften nicht nur gut sondern sehr gut sind. Denn der Nachwuchs wird immer in beide Richtungen abweichen, und die Zahl der Nachwuchstiere, die bei allen wichtigen Merkmalen gleichzeitig in die "bessere" Richtung abweichen, ist statistisch gesehen bereits sehr gering. Sie geht aber schnell gegen Null, wenn in der Zucht Tiere eingesetzt werden, die bei den uns wichtigen Merkmalen nur durchschnittlich oder gar unterdurchschnittlich sind.
Aus meiner Sicht ist das komplexeste aller denkbaren Selektions-Merkmale für eine Brieftaube ("Die As-Taube" oder "der Spitze-Flieger") bereits abhängig von vielen quantitativ vererbten Untermerkmalen. Daher ist die zu erwartende Heritabilität hier sehr gering. Genau deshalb wird in der Zucht auf sehr gute Brieftauben nur so langsam und beschwerlich ein Fortschritt erreicht. Aber genau deshalb ist es auch so spannend.
Und aus eben diesem Grunde ist es aus meiner Sicht wichtig, dass man diesem ohnehin bereits schwer zugänglichen Merkmal des "Spitze-Fliegers" nicht noch weitere, davon unabhängige Zuchtmerkmale (wie Augenfarbe, Federformen des Deckgefieders, Zehenfarbe,...) hinzufügt. Denn dann leidet zwangsläufig die Selektionsschärfe in unserem Hauptmerkmal, da wir ja nicht unbegrenzt viele Jungtauben züchten können.
Auf der anderen Seite wäre es sehr dienlich, dieses komplexe Hauptmerkmal auf weniger komplexe Untermerkmale zurückführen zu können aus denen es sozusagen "besteht". So könnte man den Zuchtfortschritt in diesen Untermerkmalen im Auge behalten, um dort keinen großen "Abstieg" zu riskieren. Denn diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn man sich bei der Selektion auf das Merkmal "AS-Taube" konzentriert hat, und die Leistung eines bestimmten Tieres aber in diesem Falle leider maßgeblich durch wenig vererbliche Merkmale bestimmt wurden, wie beispielsweise einer herausragenden Vitalität und Bastardstärke.
Und an dieser Stelle verlassen wir den Pfad des Bekannten. Welches mögen diese im Auge zu behaltenden "Untermerkmale" sein. Traditionsgeprägte Taubenzüchter fügen hier oft Äußerlichkeiten wie "Flügelform", "Körperform", "Verhalten des Schwanzes beim Neigen der Taube", "breiter Rücken",... an. Dies könnten alles durchaus zutreffende Merkmale sein.
Doch ich persönlich habe dort starke Zweifel, dass viele der hier genannten Selektions-Kriterien wirklich zielführend sind. Denn woher wissen wir denn, wie konkret bei diesen Merkmalen die Guten und die Schlechten aussehen? Es hat bisher meines Wissens keine biomechanischen Untersuchungen gegeben, die den optimalen Taubenkörper ermittelt hätten. Hätten diese Merkmale eine hohe Relevanz für eine sehr gut fliegende Brieftaube, sollte sich doch in den letzten Jahrhunderten der Brieftaubenzucht zumindest unter den Spitzentauben und Assen ein im Bezug auf diese Merkmale sehr sehr einheitlicher Typ herauskristallisiert haben!
Und exakt dies ist, trotz oft gegenteiliger Behauptungen, eben nicht der Fall! Als Beispiele möchte ich nur zwei berühmte Tauben anfügen: Den berühmten "Knook" (übersetzt "Knochen", was schon einiges über sein Äußeres aussagt) von De Klak, und die "Sissi" von Ad Schaerlaeckens, einem der Aussage Schaerlaeckens nach sehr kleinen und ziemlich unausgewogenen Weibchen, dass zu den besten Zuchttauben des 20. Jahrhunderts zu rechnen ist.
Ich möchte hier aber nicht falsch verstanden werden. Sicher wird es eine optimale Körperform (oder mehrere für Kurz-, Mittel und Weitstreckentauben) geben. Doch wenn eine Nachzuchttaube, in einer Weise von dieser Körperform abweicht, die nachteilig für die Flugleistung ist (und nur das interessiert uns doch), wird eben die Flugleistung dieses Tieres auch schlechter. Sprich über eine Selektion nach Flugleistungen einer Taube ist mir die notwendige Qualtät eines Taubenkörpers doch direkt zugänglich!
Meine persönlichen Favoriten für die im Auge zu behaltenden "Untermerkmale" sind vielmehr:
- Intelligentes Verhalten bzw. hohe Lernfähigkeit
- hohes Orientierungsvermögen
- starker Nest- und Revierinstinkt
- schnelle Regenerationsfähigkeit nach großer Anstrengung
- Distanzeignung
und zu guter Letzt
- Geschwindigkeit
Insbesondere das Regenerationsvermögen läßt aber nicht zwingend auf einen gut vererbbaren Herz-Kreislauf-Stoffwechsel Komplex schließen, da es auch einfach nur auf eine besondere (leider gering vererbliche) Vitalität zurückzuführen sein könnte. Daher werden so ausgewählte Zuchttauben erst als brauchbare Zuchttiere anerkannt, wenn ihre Nachzucht diese Merkmale ebenfalls aufweisen und dadurch die Vererblichkeit ihrer Eigenschaften auf ihre Nachzucht beweisen wurde. Andernfalls wird dieses Zuchttier (egal, wie seine Reiseleistungen dann auch gewesen sein mag) mit samt seiner Nachzucht aus dem Bestand entfernt.
Aber wie bereits gesagt. Hier befinden wir uns nicht mehr auf dem konkret durch die Populationsgenetik vorherbestimmten Pfad. Es ist vielmehr die individuelle Interpretation dieser Erkenntnisse und der daraus durch den einzelnen Züchter abgeleiteten Konsequenzen. Hier wird es spannend, und dadurch setzt der Wettbewerb zwischen den Züchtern bereits an dieser Stelle in der Zucht an!
Mittwoch, 24. September 2008
Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 7)
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