Donnerstag, 11. September 2008

Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 4)

Bei zweimal 40 Chromosomen-Strängen mit ca. 1,2 Quadrillionen Kombinationsmöglichkeiten und bei mehreren tausend Genen auf den Chromosomen, die auch noch in unterschiedlichen Varianten (Allelen) existieren, wobei manche sich immer in ihrer Wirkung durchsetzen, während andere dies nur dann tun, wenn sie doppelt vorliegen. Bei Genen, die nur ein bischen "wirken" und nur ihren Anteil zum Ganzen beitragen, bei Genen, die eine Sache bewirken, und Genen, die gleichzeitig viele Sachen bewirken können, und bei Genen die erst durch die Existenz anderer Gene Dinge bewirken können, bei all diesen Möglichkeiten und Varianten, kann man da überhaupt etwas Verlässliches über Zuchtergebnisse sagen? Ist das nicht Chaos und Zufall pur?
(Bild "Chaos" von
Roya Modesta-Keyhani)

Der Zufall und die Erwartung
Da Tauben nunmal immer ziemlich ähnlich aussehen, und nicht einmal Federn und Flügel besitzen und beim nächsten Mal ein Fell und vier Beine haben, kann von Chaos sicher nicht die Rede sein. Doch wie kommt das?
Zur Klärung nehmen wir uns mal einen Würfel und würfeln, sagen wir, 30 mal. Die gewürfelten Augenzahlen der Würfe addieren wir und teilen sie durch 30. Wir bilden also den Mittelwert aller gewürfelten Augenzahlen. Und ich sage voraus, dass der Mittelwert recht dicht bei 3,5 liegen wird.

Kann ich nun hellsehen? Nein! Es war zu erwarten, wie man so schön sagt. Die Mathematik sprich hier vom sogenannten ERWARTUNGSWERT.

Würden wir 1000 mal diese 30 Würfel-Würfe durchführen, und würden die Mittelwerte ermitteln, so würden die meisten Werte sehr dicht bei 3,5 liegen, ein paar weniger bei etwa 4 bzw 3 und nur noch sehr wenige in der Nähe von 5 und 2. Wie man so schön sagt: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Sprich dieses Verhalten von zufälligen Ereignissen ist nicht zufällig, sondern vorhersehbar, ja es ist sogar eine Art Naturgesetz! Der deutsche Mathematiker Johann Carl Friedrich Gauss (der vom 10 DM Schein) hat diese Verteilung der Mittelwerte unseres Würfelexperimentes als erster beschrieben. Doch was hat dies mit Genetik zu tun?


Qualitative und Quantitative Eigenschaften
Wenn wir die Vererbung der Gefiederfarbe, der Augenfarbe, einer Halskrause oder belatschten Füßen betrachten, stellen wir fest, dass hier sehr wenige Gene, oft sogar nur ein einziges Gen verantwortlich ist. In solchen Fällen reden wir von QUALITATIVEN EIGENSCHAFTEN. Ihre Vererbung läßt sich mit dem Rüstzeug, dass uns bereits Mendel mit auf den Weg gab sehr gut erfassen und vorhersagen.

Wenn jedoch die Vererbung von komplexeren Merkmalen wie z.B. die Milchleistung einer Kuh betrachtet wird, spielen hier viele dutzend, wenn nicht sogar hunderte Gene eine Rolle: Gene, die die Nahrungsverwertung steuern, Gene, die die Eutergröße steuern, Gene die die Hormontätigkeit steuern,...
Solche komplexen, von vielen Genen abhängigen Merkmale nennt man QUANTITATIVE EIGENSCHAFTEN. Die einzelnenen Gene tragen jedes für sich ihr Schärflein zum Gesamtresultat bei, ihre Wirkungen addieren sich quasi. Daher wird hier auch von ADDITIVER VERERBUNG gesprochen.
Bei diesen Eigenschaften kommt man mit der Betrachtungsweise Mendels nicht weiter, da sie zu sehr auf das Detail des einzelnen Genes ausgerichtet ist. Das Zusammenspiel sehr vieler Gene hingegen gehorcht den Gesetzmäßigkeiten des Zufalls, und hier hilft uns die Statistik und Mathematik weiter.

Im obigen Diagramm ist die Milchleistung von Einzelkühen in einer Kuhpopulation nach auftretender Häufigkeit dargestellt. Die Form des Diagramms kommt uns gleich bekannt vor, denn sie entspricht tatsächlich der des Würfel-Experiment-Diagramms von vorhin. Wie können ablesen, dass die meisten Kühe zwischen 4500 und 5000 kg Milch produzieren, wohingegen deutlich weniger Kühe (nur etwa 1/10tel so viele) 6500 kg Milchleistung besitzen. Und extreme Ausnahmen schaffen sogar 8000 kg.

Das Diagramm eröffnet uns aber sogar noch eine andere, weit nützlichere Information: Wir können vorhersagen, was eine neu gezüchtete Kuh aus dieser Population wohl für eine Milchleistung bringen wird! Nämlich mit einer recht großen Wahrscheinlichkeit 4500-5000 kg. Eher unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen ist es, ein "Melkwunder" von 8000 kg zu erhalten.

Ich habe gerade die Worte WAHRSCHEINLICHKEIT und unwahrscheinlich gebraucht. Genau darum geht es bei der Betrachtung der Vererbung von quantitativen Eigenschaften, die sich additiv vererben! Wir können nie eine absolute Aussage treffen, aber wir können sehr wohl eine Abschätzung über das wahrscheinlichste Ergebnis treffen.


Wie verhält sich dies bei Brieftauben?
Auch bei Brieftauben werden einige Eigenschaften (und dies sind für den Brieftaubensport die wichtigsten) quantitativ vererbt. Viele Gene tragen zu den jeweiligen Merkmalen bei, und ihre Wirkungen addieren sich. Je mehr "positiv" wirkende Gene im Erbgut der Taube angehäuft werden, desto besser. Denn umso wahrscheinlicher ist es, dass diese Gene dann auch (zumindest zum Teil) wieder bei der Nachzucht ankommen und dort ebenfalls ihre positive Wirkung erzielen.
Zwar gibt es, soweit mir bekannt ist, keine wissenschaftlich gesicherte Aufstellung der quantitativen Eigenschaften bei Tauben, doch führt z.B. der ungarische Populationsgenetiker Alfons Anker in seinem Buch "Die Kunst des Züchtens" einige quantativ vererbte Eigenschaften auf, die auf seine Zuchterfahrungen als Brieftaubenzüchter zurückgehen:
- Charaktereigenschaften wie Nestliebe, Kampfeslust und Revierverhalten,
- Intelligenz
- Frühreife, Spätreife
- Haemoglobingehalt des Blutes
- Streckeneignung/Ausdauer
- Schnelligkeit
Aus der Zucht-Erfahrung mit anderen Tieren wären wohl noch zu ergänzen:
- Flügelproportionen
- Masse/Volumen der Muskeln
- Körperbau

Spunghaft, und daher wohl nicht additiv werden laut Anker vererbt:
- Vitalität und Widerstandskraft
- Fähigkeit Kondition und Form zu halten bzw. aufzubauen


An dieser Stelle können wir also wieder einmal ein paar wichtige Lehren für die Taubenzucht ziehen:

Die für eine Top-Reisetaube essentiellen Eigenschaften "Schnelligkeit" und "Intelligenz" sowie "Revierinstinkt" werden quantitativ vererbt, hängen also von vielen Genen ab. Mendel hilft hier nicht weiter, daher sollte man ihn auch in diesem Zusammenhang nicht als Argumentationshilfe "misbrauchen".
Es geht in der Brieftaubenzucht vordringlich darum, diese Eigenschaften durch Ansammlung von so vielen positiven Genen wie möglich, langsam Schritt für Schritt zu verbessern. Wir verschieben also durch die geeignete Zuchtstrategie den Erwartungswert der Taubenleistung hin zu besseren Leistungen.
Letztendlich geht es also bei der Zuchtstrategie nicht darum eine As-Taube zu züchten, denn die könnte, wenn auch extrem selten, überall mal fallen, sondern es geht darum, die Wahrscheinlichkeit, eine As-Taube zu züchten zu erhöhen!

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