Montag, 29. September 2008

Populationsgenetik für Taubenväter (Teil 9)

Im ersten Teil habe ich kurz von Ödipus berichtet, der einem Fluch folgend seine eigene Mutter zur Frau nahm und Kinder mit ihr zeugte. Die zu recht existierende moralische Ächtung von Inzucht in der menschlichen Gesellschaft beeinflußt auch unsere Sichtweise von Inzucht in der Tierzucht. So schrieb beispielsweise Hans Zurhöfer (ein hervorragender Taubenzüchter in den 50er-70er Jahren und Begründer der Totalen Witwerschaft) in seinen Büchern voller Entrüstung gegen Inzucht bei Tauben an, da sie widernatürlich sei und nur Verfall die Folge sein könne.
Doch wie ist die Inzucht aus Sicht der Polpulationsgenetik zu beurteilen?

Inzucht, was passiert im Detail?

Von Inzucht sprechen wir in der Populationsgenetik strenggenommen immer dann, wenn Vater und Muttertier gemeinsame Vorfahren haben. Je näher die beiden Tiere verwand sind, desto stärker ist die Inzucht. Durch Inzucht wird von väterlicher und mütterlicher Seite teilweise das selbe Genmaterial mit eingebracht. Dies bedeutet, dass sich beim Jungtier an diesen Stellen im Genom gleiche Allele der Gene treffen, also die Anzahl homozygoter Genepaare erhöht wird. Diese homozyoten Genpaare habe zur Folge, dass die direkten Nachkommen dieses Tieres gesichert immer ein solches homozygot vorkommendes Allel weitervererbt bekommen. Das heißt, je höher der Homozygotiegrad des Genoms eines Tieres ist, desto sicherer kann man vorhersagen, welche Gene die Kinder bekommen werden. Doch ein Hinweis ist an dieser Stelle sehr wichtig: Dies sagt noch nichts darüber aus, ob diese Gene "gute" oder "schlechte" Gene sind!


Der Inzuchtkoeffizient, eine wichtige Kenngröße
Was nun "enger verwand" meint läßt sich konkret berechnen. Wenn z.B. eine Tochter an ihren Vater gepaart wird, so erhalten die Jungtiere ja die Hälfte der Gene vom Vater und die Häfte der Gene von der Mutter. Doch die Hälfte der mütterlichen Gene sind ja bereits schon Gene, die vom Vater stammen. Wenn diese Gene jeweils eine zufällige Auswahl des väterlichen Genoms darstellen, ist davon auszugehen, dass 25% der Gene des Jungtieres homozygot vorliegen, da sich hier jeweils Gene des Vater und Gene des Vaters über die Mutter kommend getroffen haben (50% Vatergene besitzen eine Wahrscheinlichkeit von 50% auf ein weiteres Vatergen zu treffen ergibt 25% Gen-Paare mit gleichen Allelen).

Pro Generation/Geburt, die zwischen den gleichen Verwandten liegt, erniedrigt sich die Wahrscheinlich auf gleiche Gene zu treffen, um den Faktor zwei (wegen der Spaltung der 40 Chromosomenpaare in zwei Gruppen je 40 Einzelsträngen während der Meiose). Somit wäre also die Wahrscheinlichkeit auf homozygot vorliegende Gene bei Vater x Enkel-Paarungen nur noch 12,5% und bei Halbgeschwisterpaarungen ebenfalls 12,5% (jeweils drei Geburten).

Doch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit Gene homozygot vorliegen zu haben natürlich mit jedem gemeinsamen Vorfahren, und diese Wahrscheinlichkeiten werden dann einfach addiert. Somit liegt der zu erwartende Homozygotiegrad bei einer Vollgeschwisterpaarung wiederum bei 25% (zwei gemeinsame Vorfahren und jeweils drei Geburten). Diesen aufgrund von gleichen Vorfahren und zufälliger Genverteilung zu erwartenden Homozygotiegrad im Genom des Jungtieres nennt man den INZUCHTKOEFFIZIENTEN. Die konkrete Berechnungsformel kann man leicht googlen und führt an dieser Stelle zu weit.

Die Berechnung per Hand ist insbesondere über viele Generationen etwas mühsam. Vor diesem Hintergrund ist es mir bis heute unverständlich, warum kein einziges am Markt befindliches "Taubenzucht"-Programm die automatische Berechnung des Inzuchtkoeffizienten unterstützt. So ziemlich jedes Zuchtprogramm für Karnickel, Hunde, Hühner und Pferde kann dies! "Taubenzucht"-Programme scheinen leider nur zum Ausdruck schöner Stammbäume gedacht zu sein. Ein kostenloses Tool (da es eine abgespeckte Version eines Profitools ist) findet man hier: www.tenset.co.uk/fspeed/

Das Programm wir mit einer Tabelle "gefüttert", in der pro Zeile die Nummer des jeweiligen Tieres, des Vaters und der Mutter jeweils durch Komma getrennt geschrieben stehen.


Der Inzuchtkoeffizient am Beispiel des "Jonge Merckx"
Der "Jonge Merckx" ist eine der wichtigsten Tauben, die die Gebrüder Janssen gezüchtet haben, denn nicht nur, dass er 15 mal den 1.Preis flog, praktisch alle Vererber und guten Zuchtauben der jüngeren Vergangenheit der Gebrüder Janssen stammen von ihm ab. Als Beispiele nenne ich nur drei seiner Enkel: "Blauwe Winterjonge" (Vater von "Klamper" und "Vechter" (Legiest) und Opa "Lowieke"(v.d.Pasch)), "Afgekeurde" und "Raket" (wichtige Stammtaube für den Schlag G.&C. Koopman).
Soweit die Verwandschaftsbeziehungen dokumentiert waren, habe ich versucht den Verlauf von Inzuchtkoeffizienten im Stammbaum des "Jonge Merckx" zu berechnen.
Da die ich die genauen Verwandschaftsverhältnisse der Janssen Tauben vor 1950 nicht komplett herausfinden konnte, die Gebrüder Janssen aber bereits zuvor Verwandschaftzzucht betrieben haben, ist von insgesamt höheren Inzuchtkoeffizienten als den angegebenen auszugehen, dennoch kann man an diesem Beispiel einige Dinge gut zeigen.

Durch einen Click auf die Abbildung wird die Abstammung vergrößert angezeigt.


Der "Jonge Merckx" besaß also nach meinen Recherchen mindestens einen Inzuchtkoeffizienten (im Stammbaum IZK abgekürzt) von 45%. Dies heißt 45% seines Erbgutes lagen wahrscheinlich Homozygot vor, wurde also gesichert auf seine Nachzucht übertragen. Es ist also kein Zufall, dass gerade er als ein so nachhaltiger Vererber bekannt wurde.

45% ist ein enorm hoher Wert, denn dies ist ja fast doppelt so hoch, wie der Inzuchtkoeffizient eines Tochter x Vater Produktes! Man kann zudem sehen, wie die Inzucht von Generation zu Generation stetig zunahm, da immer häufiger gleiche Verwandschaft im Stammbaum auftrat (ein Teil des Stammbaumes, jenseits der 5. Generation ist nicht abgebildet). Zudem ist ersichtlich, dass es für die Betrachtung von Inzucht innerhalb einer Zuchtstrategie sehr wohl wichtig ist, einen Stammbaum so komplett und so weit zurückführend wie möglich zu kennen.

Die immer wieder geäußerte Ansicht, dass Stammbäume bei der Zuchtplanung nicht wichtig seien, da sie ja "nicht fliegen" können, ist gefährlich, da man wichtige Verwandschaftsbeziehungen aus dem Blick verlieren könnte und somit zum Beispiel in Inzucht paart, ohne dass man sich dessen bewußt ist, weil die gleichen Verwandten bereits länger zurück liegen. Man hätte z.B. die Paarung der Eltern der "Kleintje van 65" gar nicht als Verwandschaftszucht erkannt, obwohl bei ihr bereits ein Inzuchtkoeffizient von 9,4% vorliegt (also mehr als bei einer Vater x Enkel Verpaarung).

Allerdings hat der "Jonge Merckx" selbst nie direkt ein herausragend gut fliegendes Jungtier produziert, Erfolge fanden sich mehr in den folgenden Generationen und sie wurden meist bei anderen Züchtern gefeiert. Und ohnehin gingen die Reiseleistungen der Gebrüder Janssen ab diesem Zeitpunkt, den 70er Jahren, bergab! Was war passiert? Schließlich hatte der "Jonge Merckx" doch offensichtlich ein dickes Paket an "guten" Genen, die er an seine Nachzucht weitergab. Warum wurden die Erfolge dann bei den Janssens immer schlechter?


Inzuchtdepression und Heterosis
Die Konzentration von Genen mittels Inzucht konzentriert die Gene eines gemeinsamen Vorfahren in zufälliger Zusammensetzung und nicht nur die "guten" Gene. Wenn ein gemeinsamer Verwandter z.B. ein sehr seltenes rezessives Gen für eine bestimmte Krankheitsanfälligkeit besitzt, so wird sich dieses Gen in Paarungen mit nicht verwandten Tieren wohl nie negativ auswirken, da er im Bestand die einzige Taube mit diesem Gen ist. Wird aber später seine Nachzucht miteinander in Inzucht verpaart, so kann dieses Gen plötzlich homozygot auftreten, und damit phänotypisch sichtbar werden. Sprich die Krankheitsanfälligkeit würde bei diesem Nachzuchttier auftreten.

Durch Inzucht können also rezessiv vererbte seltene Eigenschaften zu Tage treten, und manche davon können einen negativen Einfluß auf den Phänotyp haben. Somit ist klar, je höher der Homozygotiegrad ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass solche negativen Effekte zu Tage treten.
Des weiteren beeinflussen sich verschiedene Gene ja auch gegenseitig (Epistasie oder auch Überdominanz genannt). Je mehr Homozygotie im Genom vorhanden ist, desto wahrscheinlicher sind epistatische Wechselwirkungen. Und auch hier gilt: manche hiervon wirken sich negativ auf den Phänotyp aus.

Je stärker also die Inzucht ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass negative bisher im Erbgut versteckte Eigenschaften sichtbar werden. Bei diesem Effekt spricht man gemeinhin von INZUCHTDEPRESSION.

Ein weiterer Effekt der Inzucht ist es, dass die genetische Variationsbreite der ingezüchteten Tiere in dem Maße abnimmt, in dem die Zahl der verschiedenen Vorfahren abnimmt. Dies kann den positiven Effekt haben, dass man das Erbgut weniger sehr guter Tiere konzentriert vorliegen hat. Dies kann aber ebenso den negativen Effekt haben, dass die Anpassungsfähigkeit dieser Tiere auf veränderte Umweltbedingungen nachlässt. Denn ein Allel, das "weggezüchtet" wurde, ist unwiederbringlich verloren.

Der extrem hohe Inzuchtgrad des "Jonge Merckx" verdeutlicht, wie aussergewöhlich gut das Ausgangsmaterial der Janssens einst gewesen sein muß, mit dem sie ihre Zucht begannen. Denn es finden sich in der Literatur Hinweise, dass Inzuchtdepression oft schon bei einem Inzuchtkoeffizienten von 10% negative Auswirkungen zeigt. Doch der "Jonge Merckx" war trotz des Wertes von 45% mit 15 1.Konkursen fliegerisch eine Ausnahmetaube. Bei ihm waren offensichtlich hauptsächlich "gute" Gene konzentiert worden. Darüber hinaus zeigt der hohe Wert des "Jonge Merckx" aber auch, dass er nur noch über eine sehr viel geringere gentische Variationsbreite verfügte, als die Tauben anderer Züchter. Bei den Janssens selbst konnte er nur mit wiederum mit ihm verwandten Tieren verpaart werden, so dass die genetische Verarmung und der Inzuchtgrad seiner reinen Janssen-Kinder eher noch zunahm. Veränderte Anforderungen (z.B. durch neue Krankheitskeime) und zunehmende Inzuchtdepression bereiteten den Erfolgen der Janssens damit ein absehbares Ende.

Ungebrochen hoch bis in die 90er Jahre war jedoch die Qualität der Janssen-Tauben als Vererber von Spitzenpreisen (insbesondere auf Kurz- und Mittelstrecken). Sie zeigten diese Fähigkeit insbesondere dann, wenn sie mit absolut nicht verwandten Tieren eines anderen Züchters gekreuzt wurden. Und es ist schnell klar warum: Mit einem Schlag (also schon in der ersten Paarung) wird der hohe Homozygotiegrad, der hauptsächlich für die Probleme verantwortlich ist, auf einen Inzuchtkoeffizienten von 0% reduziert. Die negativen Folgen der starken Inzucht sind damit ebenfalls mit einem Schlag verschwunden. Aber im Gegenzug erhalten die Kinder ein großes Paket von den "guten" Genen des "Jonge Merckx", die über ihre additive Genwirkung weiterhin wirken.

Diese plötzliche Verbesserung des Phänotyps in seiner Leistungsfähigkeit, bei Jungtieren einer Kreuzungspaarung, nennt man HETEROSIS. Sie ist sozusagen das Gegenstück zur Inzuchtdepression.

3 Kommentare:

  1. Hallo Meinolf, sehr guter Post von Anfang bis Ende...
    Ich hab aber eine Frage. Warum kommst du auf 45% IZK?

    Ich komme nach meiner Berechnung nur auf:
    1. Ahne "Oude Merckx" - 1 zu 2 - 25%
    2. Ahne "De Stier van 63" 2 zu 3 - 6,25%
    2. Ahne "Kleintje von 65" 2 zu 2,3 - 12,50%
    somit nur 43,75%..
    oder habe ich noch etwas vergessen?

    Wäre nett um eine Info.
    Gruss

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  2. Hallo, dank dir zunächst einmal für dein Feedback.
    Zum Inzuchtkoeffizienten des Jonge Merckx:
    Zu den von dir aufgeführten Beiträgen zur Inzucht kommen noch die hinzu, die ein paar Generationen weiter zurück liegen, hier im Stammbaum aber ev. nicht sofort sichtbar sind. Vertraue ich auf die Informationen, die über die Abstammung der Janssentauben im Netz und im Buch von Ad Schaerlaeckens zur Verfügung gestellt werden, so ermittelt das aktuell von mir benutze Programm für den "Jonge Merckx sogar einen IZK von 45,84% . Z.B. sollte im Kleintje von 65 bereits eine Inzucht von 10,62% aufgetreten sein, welche weitestgehend auf den Bange von '51 und den Blauwe von '48 zurück geht. Und so trägt der Oude Merckx damit schon bereits 14,02%.

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    1. somit sind die im abgebildeten Stammbaum genannten Inzuchtkoeffizienten der Ahnen ev. nicht alle korrekt müßten ggf. teilweise etwas höher sein. Damals, als ich es schrieb, mußte ich da aber noch per Hand ran, da ich kein Programm hatte, dass mich da so schön unterstützt, wie heute.

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